"Als ich darüber informiert wurde, dass mir diese Auszeichnung verliehen wird, fühlte ich einen Sturm von Emotionen. Es gab komplexe, seltsame, dunkle Gefühle, die schwer auszudrücken waren. 'Was hat Religion mit mir zu tun? Da muss etwas nicht stimmen.' Deshalb war meine erste Reaktion: 'Bist du sicher? Weißt du, dass ich mich selbst als Atheist betrachte?' Die Antwort war sofort: 'Wir glauben, dass du dein Leben den religiösen Fragen gewidmet hast.' Die großzügige Antwort entwaffnete mich und erinnerte mich an viele Gespräche, die ich mit Rollo May geführt habe, der darauf bestand, mein Handbuch 'Existenzielle Psychotherapie' als religiöses Buch zu betrachten. Ich erinnere mich auch daran, dass Lou Salome Nietzsche als religiösen Denker mit einer antireligiösen Position bezeichnete.
Meine Rede wird sich auf die Fragen konzentrieren, die aus diesen widersprüchlichen Emotionen entstehen, und insbesondere auf einige existenzielle religiöse Fragen, die oft als religiös betrachtet werden. Ich werde auch einige Vergleiche zwischen existenzieller Psychotherapie und religiösem Trost skizzieren. Ich glaube, dass diese beiden Ansätze durch eine komplexe und angespannte Beziehung miteinander verbunden sind. In gewisser Weise sind sie Verwandte, sie haben die gleichen Vorfahren und Anliegen. Sie teilen eine gemeinsame Mission: der Verzweiflung zu dienen, die im menschlichen Schicksal angelegt ist. Manchmal haben sie gemeinsame Methoden - die persönliche dyadische Beziehung, den Prozess der Beichte, die innere Erforschung, die Vergebung von anderen und sich selbst. [...]"
Dieser Aufsatz ist die Dankesrede von Irvin Yalom anlässlich der Verleihung des Oscar Pfister Awards, einer sehr wichtigen Ehrenauszeichnung des Komitees für Psychiatrie und Religion der American Psychiatric Association. Der berühmte Psychiater entwickelt hier seine Positionen zur existenziellen Psychotherapie und analysiert die Punkte, an denen er mit religiösem Trost konvergiert oder divergiert. Die Ideen von Nietzsche, Schopenhauer und Kazantzakis durchdringen diesen entscheidenden theoretischen Text des Autors der Romane "Als Nietzsche weinte" und "Das Spinoza-Problem".