In diesem Band - dem so schnell wie möglich ein zweiter folgen wird - haben wir uns entschieden, sieben Studien zusammenzufassen, die in Frankreich und im Ausland veröffentlicht wurden, weil diese Werke Teil einer gemeinsamen Forschung sind, die seit vielen Jahren läuft und ihren Ausgangspunkt im Unterricht von Louis Gernet hat.
Was meinen wir genau mit dem Titel "Mythos und Tragödie"? Tragödien sind natürlich keine Mythen. Im Gegenteil, man könnte argumentieren, dass das tragische Genre am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. erscheint, als die Sprache des Mythos nicht mehr in direktem Kontakt mit der politischen Realität der Stadt steht. Der Raum des Tragischen befindet sich zwischen zwei Welten; und diese doppelte Referenz, einerseits zum Mythos (der nach der neuen Wahrnehmung einer vergangenen Zeit angehört, aber immer noch im Bewusstsein der Menschen lebendig ist) und andererseits zu den neuen Werten (die sich so schnell mit der Stadt Peisistratos, Kleisthenes, Themistokles, Perikles entwickeln), ist eine der Originalitäten dieses Raums und das gleiche Motiv des tragischen Handelns. Im tragischen Konflikt scheinen der Held, der König, der Tyrann innerhalb des Rahmens der heroischen und mythischen Tradition zu handeln und gebunden zu sein, aber die Lösung des Dramas entzieht sich ihnen: weil sie niemals vom einsamen Helden gegeben wird, sondern immer den Triumph der kollektiven Werte ausdrückt, die von der neuen demokratischen Stadt auferlegt werden. [...]
Jean-Pierre Vernant
Pierre Vidal-Naquet

Enthält die Aufsätze:
Jean-Pierre Vernant
- Der historische Moment der Tragödie in Griechenland. Einige soziale und psychologische Bedingungen.
- Spannungen und Ambiguitäten in der antiken griechischen Tragödie
- Skizzen des Willens in der griechischen Tragödie
- "Ödipus" ohne Komplex
- Ambiguität und Umkehr. Zur rätselhaften Struktur der Tragödie "Ödipus Tyrannus"
Pierre Vidal-Naquet
- Jagd und Opfer in Aischylos' "Orestie"
- Sophokles' "Philoktetes" und Adoleszenz