Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie hat eine wahre "Pandemie der Interpretationen" in Bezug auf die Verfassung, Institutionen, Rechte, Demokratie sowie das Verhältnis zwischen Staat und Globalisierung und der Europäischen Union in den Vordergrund gerückt. Die im öffentlichen Dialog aufgetauchten Fragen waren vielfältig und provokativ. Wurde die Verfassung durch die Einschränkungen der Rechte und des Funktionierens der Demokratie gestört? Wurde die Autonomie der Politik durch die Souveränität der "Experten" beeinträchtigt? Wie wird die Ausweitung von Ungleichheiten angegangen und wie werden politische Dilemmata in Zeiten der Pandemie formuliert? Zieht sich die Globalisierung wirklich zurück und erleben dominante Nationalstaaten ein starkes Comeback? Taucht der traditionelle Keynesianismus wieder auf oder entsteht eine "neue Art" von Interventionismus? Wie wird das interventionistische Handeln der EU bewertet und inwiefern geht die Krisenbewältigung mit der wirtschaftlichen und politischen Vereinigung Europas einher?
Die Dekonstruktion der Mythen der "interpretativen Pandemie" bietet die Möglichkeit, über die Zukunft des Konstitutionalismus auf zwei Ebenen nachzudenken: Erstens, indem das Konzept der Verfassung als Technik der Gewaltenteilung wiederhergestellt wird, die demokratische Selbstbestimmung gegen jede Form von Tyrannei ermöglicht. Zweitens, indem die Tugenden einer solidarischen Gesellschaft des Teilens und der gleichberechtigten Teilhabe wiederentdeckt werden, in der sich "soziale Demokratie" mit den gegenseitigen ethischen Pflichten der Bürger vereint.