Der Schweizer Volkskundler (par excellence des europäischen Volksglaubens) Max Luthi gilt als einer der wichtigsten internationalen Forscher des Volks (mündlichen) Dichtung. Sein Hauptwerk ist dieses Buch mit dem aussagekräftigen Titel und insbesondere seinem Untertitel: "Märchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie" (1975). Mit Ästhetik sucht er die literarische Form des Märchens, mit Anthropologie das Bild des Menschen und seiner Welt. Er beobachtet, dass trotz der unzähligen Variationen der verschiedenen Erzählungen immer wieder ein bestimmter Menschentypus auftaucht. Er glaubt auch, dass Schönheit das Erste und Wichtigste im Märchen ist. Aber die Anwesenheit des Märchenhelden und der Märchenheldin ist neben der Schönheit ebenso wichtig. Besonders bedeutsam ist, dass beide Elemente ohne vorgegebenen Zweck geformt werden, spontan, nur mit dem, was den Erzählern gefiel und was sie dachten. Eine tiefere Reflexion wurde dementsprechend ebenfalls gebildet. Luthi erwähnt zum Beispiel die symbolische Idee, die in Märchen unweigerlich vorherrscht, dass Schönheit das äußere Erscheinungsbild von Güte ist, Hässlichkeit das äußere Erscheinungsbild von Bösem. Gute Heldinnen sind von Natur aus schön, schlechte sind hässlich. Das Buch liefert Antworten auf die Hauptfragen im Zusammenhang mit dem Märchen: Wildheit, der Konflikt zwischen Gut und Böse, die Form des Helden und der Heldin, das Konzept des Symbols, das Muster der Verwandlung usw. Ein unschätzbarer Wert des Buches liegt in seiner reinen Sprache, fern von einer theoretischen Sprache, wie es in solchen Fällen üblich ist.