Warum zeigt eine Person in einer Menschenmenge Eigenschaften, die sie alleine und in ihrem eigenen Handeln nicht zeigt? Warum nehmen unter dem Einfluss der Masse ihre kognitiven Fähigkeiten ab, haben sie extreme emotionale Reaktionen oder zeigen sie Selbstlosigkeit und Selbstopferung? Dies ist die wesentliche Frage, die Freud in der Psychologie der Massen betrachtet. Und er beschäftigt sich nicht nur damit, weil "Massenphänomene" in der Gesellschaft seiner Zeit an Bedeutung gewinnen, sondern auch, weil er in der reifen Phase seines Denkens danach strebt, einen breiteren anthropologischen Ansatz jenseits der Pathologie des einzelnen Patienten zu gestalten. Für ihn kann die individuelle Psychologie nicht unabhängig vom Einfluss anderer existieren; sie ist letztendlich aus der Psychologie der Massen entstanden. Freud wird daher einen Umweg über die Theorien seiner Zeit zur Bildung der Masse nehmen und argumentieren, dass ihre Bildung hauptsächlich auf libidinösen Beziehungen beruht. Er wird seine kühnen Ausflüge in die Vorgeschichte fortsetzen, wo er auf die Bildung der archaischen Masse und der primitiven Horde stoßen wird, um die emotionalen Beziehungen zwischen Individuen sowie zum Anführer zu erklären, ausgehend von der Ermordung des archaischen Vaters.
Konzepte wie Identifikation sowie eine neue Ebene des Ichs, das ideale Ich, werden verwendet, um das Geheimnis des Einflusses, den Führer auf die Individuen der Masse ausüben, zu klären. Gleiches gilt für das Konzept der Hypnose, zu dem Freud zurückkehrt, um seine privilegierten, aber auch rätselhaften Beziehungen zum Unbewussten zu bekräftigen.